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Das Mädchen, das einen Papa suchte

Eine wahre Geschichte.


Da war dieses Mädchen, ungefähr 5 Jahre alt - es stand am Gartenzaun der Mehrparteienvilla in einer Kleinstadt nähe Wien. Es war etwas ärmlich angezogen. Die Strümpfe rollten sich die Beine entlang nach unten, das Faltenröcken pluderte den runden Bauch noch mehr auf und man konnte sehen, dass ihre Stirnfransen nach Mama's Kochtopf ganz gerade geschnitten waren.


Leute gingen draußen auf der Straße vorbei, beachteten das Mädchen aber nicht. Es guckte ein bisschen gelangweilt und beschloss dann, das Gartentor zu öffnen und hinaus zu treten. Sie wusste, dass sie das nicht durfte, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie schlenderte ein wenig die Straße entlang - nicht zu weit weg von zu Hause, aber doch.


Mama war arbeiten und Oma guckte ohnehin nicht immer beim Fenster runter. Sonst gab es niemanden in der Familie. Sie war es gewöhnt, alleine zu spielen. Freunde gab es nicht, denn ihre Mutter war bei ihrer Geburt schon viel älter, als andere Gebärende um sie herum. Außerdem waren sie ja erst hierher gezogen. Spielzeug gab es auch nicht viel, denn die kleine Familie war arm. Also begnügte sie sich meist mit Murmeln, Stöckchen oder pflückte Blumen im riesigen Garten. Heute aber nicht. Irgendetwas trieb sie hinaus auf die Straße.


Vielleicht war es eine innere Stimme, vielleicht eine tiefe, tiefe Sehnsucht. Sie beobachtete die Menschen. Sie beobachtete Männer. Und sie fragte diese Männer: Magst du mein Papa sein? Ich hab ja keinen!


Kinder wissen ja intuitiv, was in einer Familie eigentlich sein müsste. Vater – Mutter – Kind.So war das auch in den Märchen, die ihr die Mutter oft vorlas. Nur bei diesem Mädchen war das nicht so. Da gab es keinen Vater. Zumindest nicht einen, der da war, so wie bei den anderen Kindern, mit denen sie in den Kindergarten ging. Keiner, der sie hochhob und keiner, der sie in seinen starken Arme nahm.

Nach ein paar Männern, die sie lachend abgewiesen hatten, lief sie also wieder auf den Nächsten zu: „Magst du mein Papa sein?“ Und diesmal sagte einer: „Ja, gern! Wo wohnst du denn?“ – „Hier! Kommst du mit hoch?“

Die zwei unterhielten sich noch eine Weile und er versprach tatsächlich, kurz später mit hinauf in die Wohnung zu gehen.


Die Mutter des Mädchens war inzwischen vom Arbeiten nach Hause gekommen und sehr verblüfft über das „Anhängsel“ der Kleinen, war aber einverstanden, dass der Mann mit ihr spielte und zu Kaffee und Kuchen blieb. Ach, was war das für ein schönes Gefühl für das Mädchen! Endlich waren da starke Arme, die sie berührten und diese männliche Energie war wie Balsam auf die sehnsüchtige Seele des Kindes. So fühlte sich das aufregend und hoffnungsvoll an. Ab diesem Tag kam er immer wieder und sie spielten gemeinsam „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Quartett“.


Bis es eines Tages komisch wurde. Das Mädchen saß, wie schon einige male davor auf dem Schoß des Mannes, als dieser plötzlich seine Hand unter ihre Strumpfhose und Unterhose schob und begann, das Mädchen zu berühren. Sofort wusste sie, dass das nicht richtig war, versuchte sich vorsichtig und lautlos heraus zu winden, aber die Arme des Mannes waren stärker. Sein „Psssst“ neben ihren Ohren wurde wie ein hypnotisches Mantra. Sie traute sich nicht, zu bewegen, geschweige denn, etwas zu sagen. Auch nicht zu ihrer Mutter.


Das ging wohl einige Male weiter, bis das Mädchen die wiederholten Einladungen zum Schlittenfahren, wo ihr der „Leih-Papa“ ihr immer wieder unter den Schianzug fasste, verweigerte. Irgendwann da muss wohl Mama etwas bemerkt haben oder das Mädchen sich anvertraut haben, denn ab da gab es keinen Kontakt mehr zu diesem Mann.



Diese Geschichte ereignete sich vor mehr als 50 Jahren. Niemand brachte den Mann zur Anzeige. Niemals hat jemand danach darüber geredet. Weder mit der Kleinen, noch mit sonst jemanden. Stillschweigen. Scham. Heute undenkbar, doch damals ...


Was die Kleine daraus gelernt hat?

"Ich kann niemanden an mich heranlassen."

"Meine Bedürfnisse werden nur ausgenutzt."

"Ich muss einfach still halten."

"Ich darfst mich nicht wehren."

"Ich muss tun, was ein anderer will".

"Niemand kommt mir mehr nahe!"



Die Geschichte beschreibt ein tiefes Trauma, das nicht nur das unmittelbare Kindes-Ich geprägt hat, sondern auch die spätere erwachsene Frau. Ich gehe zuerst auf die möglichen Auswirkungen im Erwachsenenleben ein und dann darauf, wie systemische Aufstellungsarbeit hier ansetzen kann – gerade auch unter Einbezug der Tatsache, dass der leibliche Vater zwar bekannt, aber dem Mädchen von der Mutter ferngehalten wurde.


Wenn der Vater vorenthalten wird, fehlt Vertrauen und Sicherheit im Leben.
Wenn der Vater vorenthalten wird, fehlt Vertrauen und Sicherheit im Leben.

Mögliche Auswirkungen im Erwachsenenleben


Ein Kind, das mit dieser Erfahrung aufwächst, trägt mehrere Prägungen in sein Erwachsensein:

  1. Bindung und Vertrauen

    • Die Sehnsucht nach einem Vater führte in eine Erfahrung von Missbrauch und Grenzverletzung.

    • Später zeigt sich das oft in einer tiefen Ambivalenz zwischen Sehnsucht nach Nähe und Angst vor Nähe.

    • In Beziehungen kann das bedeuten: entweder Distanz halten, Nähe abwehren – oder sich auf „falsche“ Menschen einlassen, weil die innere Landkarte Nähe mit Gefahr verknüpft.

  2. Körper- und Selbstbild

    • Der Körper wurde nicht als sicherer Ort erlebt, sondern als etwas, das benutzt wird.

    • Erwachsene Frauen aus solchen Kindheitsgeschichten haben oft Schwierigkeiten mit Sexualität (Abspaltung, Scham, Schuldgefühle oder das Gefühl, sich nicht hingeben zu können).

  3. Innere Glaubenssätze

    • „Ich darf niemandem vertrauen.“

    • „Ich bin schuld, wenn etwas passiert.“

    • „Meine Bedürfnisse sind gefährlich oder bringen mich in Gefahr.“

    • Diese Glaubenssätze wirken unbewusst steuernd in Beruf, Partnerschaften und Freundschaften.

  4. Bindungs- und Beziehungsmuster

    • Übermäßige Anpassung (People Pleasing).

    • Vermeidung tiefer Bindung, weil unbewusst Gefahr vermutet wird.

    • Oder auch das Gegenteil: starke Abhängigkeit von Partnern, die emotional nicht verfügbar oder übergriffig sind.

    • Oft tritt ein „Nie wieder hilflos sein“-Reflex auf → starke Kontrolle in Beziehungen.

  5. Gefühl von Einsamkeit

    • Das Kind suchte nach einem Papa, weil es den natürlichen väterlichen Halt nicht hatte.

    • Wird der Vater von der Mutter ferngehalten, fehlt nicht nur die väterliche Energie, sondern auch das Gefühl, „beide Eltern zu haben“. Das Kind trägt die Leerstelle in sich – oft als inneres „Loch“, das in Beziehungen später durch übermäßige Sehnsucht nach Bestätigung sichtbar wird.

Systemische Perspektive

Aus systemischer Sicht geht es um Ordnungen und Zugehörigkeit:

  • Der leibliche Vater: Er war bekannt, aber von der Mutter ausgeschlossen. Für ein Kind bedeutet das: „Ich darf ihn nicht haben“ oder „ein Teil von mir wird abgelehnt“. Kinder sind zur Hälfte Mutter, zur Hälfte Vater – wenn einer ausgeschlossen wird, spaltet das innere Selbst.

  • Die Mutter: Sie war vermutlich selbst belastet (Armut, Überforderung, ältere Geburt, Alleinerziehung). Dadurch konnte sie nicht ausreichend Schutz und Halt bieten. Das Kind blieb unbewacht und suchte selbständig „den Papa“.

  • Der „Leih-Papa“: Er trat als Ersatzfigur auf, der anfangs die ersehnte Lücke füllte, aber durch seinen Missbrauch das Vertrauen fundamental zerstörte.

  1. Würdigung des Kindes

    • In einer Aufstellung kann das innere Kind sichtbar werden: die Sehnsucht, die Suche, die Verletzlichkeit.

    • Oft braucht es einen Stellvertreter, der diesem Kind Zuwendung gibt – nicht, um den Schmerz zu übergehen, sondern um zu sehen: „Es war nicht deine Schuld.“

  2. Den Vater zurück ins Bild holen

    • Der leibliche Vater bekommt seinen Platz im System.

    • Auch wenn er nicht präsent war: das Kind darf anerkennen, dass er zur Hälfte in ihr lebt.

    • Typischer Satz: „Lieber Papa, du gehörst dazu. Auch wenn Mama dich nicht bei mir haben wollte – ich nehme dich in meinem Herzen an.“

    • Das kann innerlich eine große Entlastung geben, weil die Spaltung sich löst.

  3. Die Mutter würdigen

    • Es kann hilfreich sein zu sehen: Die Mutter hat aus ihrer Überforderung gehandelt. Sie konnte nicht alles geben.

    • In einer Aufstellung kann ein Satz helfen wie: „Mama, du hast getan, was du konntest. Den Rest nehme ich jetzt selbst in die Hand.“

    • Das entbindet das erwachsene Selbst aus der kindlichen Erwartung, dass Mama den Papa „geben“ müsste.

  4. Der Täter – Abgrenzung

    • In Aufstellungen kann man Täter auf Distanz stellen. Wichtig: nicht versöhnen, sondern klar trennen.

    • Satz: „Was du getan hast, war nicht in Ordnung. Die Verantwortung bleibt bei dir. Ich lasse das bei dir.“

    • Das unterstützt die erwachsene Frau, die Schuldgefühle abzugeben.

  5. Integration ins Erwachsenen-Ich

    • Ziel: Die Frau von heute erkennt, dass sie nicht mehr das hilflose Mädchen ist.

    • Neue Sätze:

      • „Ich darf Nähe erleben – und ich bestimme die Grenzen.“

      • „Mein Körper gehört mir.“

      • „Ich bin die Große, ich kann mich schützen.“

Zusammengefasst: Die erwachsene Frau trägt die Folgen von Sehnsucht, Enttäuschung und Missbrauch in sich. Beziehungen können von Distanz, Kontrollmustern oder von Abhängigkeit geprägt sein. In einer systemischen Aufstellung lässt sich die ursprüngliche Dynamik sichtbar machen: das ausgeschlossene Vaterbild, die Überforderung der Mutter, die traumatische Ersatzfigur. Heilung beginnt, wenn die Frau dem leiblichen Vater innerlich wieder einen Platz gibt, die Verantwortung für das Geschehene beim Täter belässt und sich selbst als erwachsene, starke Frau anerkennt. Meine aktuellen AUFSTELLUNGS-TERMINE findest du HIER

 
 
 

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