Den Platz neben dir für einen Partner frei machen
- Andrea Linzer
- 16. Juni
- 4 Min. Lesezeit
Eine systemische Erzählung aus meiner Praxis
Ich erinnere mich genau an den Moment, als sie den Raum betrat. Lena war eine sehr attraktive, schöne Frau mit großen klaren Augen, aber in ihrer Haltung lag etwas Zurückgehaltenes – als würde sie etwas verbergen müssen.
„Ich will endlich wieder eine Beziehung leben können", sagte sie. „Ich will endlich wieder eine Frau sein. Ich war so lange nur Mutter - für meinen Sohn, der jetzt aber schon aus dem Haus ist. Aber sobald ein Mann näher kommt, zieht sich etwas in mir zurück. Ich schiebe ihn weg. Und ich weiß nicht warum.“
Ich bat sie, ihr Anliegen noch einmal laut zu sagen. Für sich selbst. Für das Feld. Für das, was in Bewegung kommen wollte.
Sie atmete tief ein und sagte:
„Ich wünsche mir eine Partnerschaft. Ich will nicht mehr nur funktionieren. Ich will Nähe zulassen können. Ich will frei sein – für einen Mann an meiner Seite."
Wir begannen die Aufstellung.
Das Bild des Familiensystems
Ich bat sie, Stellvertreter auszuwählen: Einen für sich selbst, Einen für ihren Sohn Jonas, Einen für den Vater des Sohnes, Einen, für einen möglichen neuen Mann – und, zögerlich, aber entschieden, auch eine Stellvertreterin für ihr Frau-Sein.
Kaum standen sie, lag eine spürbare Spannung im Raum.

Lenas Stellvertreterin stand dicht an Jonas – fast an seiner Seite. Ihr Blick war auf ihn gerichtet, ihre Schultern leicht vor geneigt, wie im ständigen Bereitschaftsmodus. Jonas, dargestellt von einem sensiblen jungen Mann, wirkte wie zwischen Stolz und Überforderung gefangen – ein Sohn, der längst mehr war als nur das. Der Vater? Stand weit abseits. Regungslos. Der neue Mann? Stand draußen. Unsichtbar, trotz Präsenz. Und das Frau-Sein? Stand hinter Lena. Kaum spürbar. Wartend. Fast vergessen.
Ich spürte: Wir würden heute keine große Inszenierung erleben. Kein Drama. Sondern etwas viel Tieferes. Eine Bewegung der Würde.
Die ersten Worte
Ich bat Lena, sich dem Vater ihres Sohnes zuzuwenden. Es war ein zögerlicher Blick – eine Mischung aus Groll, Schmerz und alten Enttäuschungen.
„Du warst nicht da", sagte sie leise. „Ich musste alles alleine machen. Ich hätte dich so gebraucht – als Vater für unser Kind, aber auch als Mann an meiner Seite. Stattdessen habe ich dich innerlich verurteilt, ausgeschlossen. Und mich allein gelassen gefühlt."
Der Stellvertreter des Vaters senkte den Blick. Nach einem Moment der Stille sagte auch er – tastend, aber ehrlich:
„Ich war überfordert. Ich habe mich zurückgezogen, statt Verantwortung zu übernehmen. Ich habe dich mit allem allein gelassen. Und ich habe mich dafür schuldig gefühlt – so sehr, dass ich mich noch mehr entzogen habe."
Es war ein schwerer, aber wahrhaftiger Moment. Keiner war nur Täter. Keiner nur Opfer. Es war die Geschichte zweier Erwachsener, die ein Kind miteinander hatten – und einander nicht halten konnten.
Dann kam ein Innehalten. Ein tiefer Atemzug. Und schließlich sagte Lena, mit klarem Blick:
„Du bist der Vater unseres Sohnes. Nicht mehr mein Partner – aber wichtig. Für ihn. Und auch für mich – als Teil unserer Geschichte. Ich habe dich entwertet. In meinem Herzen warst du nicht mehr da. Aber unser Sohn braucht uns beide. Nicht als Paar – sondern als Eltern."
Und ich ergänzte für das Feld – leise, aber deutlich:
„Die Paarbeziehung geht das Kind nichts an. Nur die Elternbeziehung bleibt. Die müssen die Großen tragen.“
In diesem Moment richtete sich die Energie im Raum neu aus.Der Sohn konnte wieder Kind sein. Und das Band der Elternschaft stand – nicht als Last, sondern als Verantwortung zwischen zwei Erwachsenen.
Ein kaum sichtbares Nicken vom Stellvertreter. In diesem Moment richtete sich Jonas’ Körper leicht auf. Fast unmerklich – aber spürbar.
Die Entflechtung
Dann bat ich sie, ihrem Sohn in die Augen zu sehen. Sie zögerte. Tränen stiegen auf.
„Lieber Jonas! Ich habe da etwas verwechselt und das tut mir leid. Du bist mein Sohn – und ich bin deine Mutter. Dort steht dein Vater und für dich ist er der Richtige. Du darfst ihn lieben und ich freu mich, wenn du zu ihm gehst!"
„Ja", sagte der junge Mann leise. „Ich habe das gespürt. Ich wollte dir helfen. Aber ich konnte nicht mehr frei atmen.“
„Du wolltest mich stützen“, fuhr sie fort. „Das war nicht deine Aufgabe. Du bist mein Kind. Ich bin die Große. Du bist der Kleine. Und ich gebe dir jetzt deine Freiheit zurück."
Sie trat einen Schritt zurück. Und er tat es auch. Plötzlich war Raum da. Raum, der gefehlt hatte – jahrelang.
Die Rückkehr zur Frau
Nun bat ich sie, sich umzudrehen – zu ihrem Frau-Sein. Die Stellvertreterin, die jetzt zum ersten mal richtig beachtet wurde, trat vorsichtig einen Schritt näher.
Lena sah sie an. Und sagte, mit brüchiger, aber klarer Stimme:
„Ich habe dich lange verdrängt, gar nicht zugelassen. Ich war Mutter, Kämpferin, Versorgerin. Aber ich habe vergessen, dass ich auch Frau bin. Und jetzt will ich dich zurück in mein Leben holen.“
Ihre Körperhaltung veränderte sich. Ihre Schultern wurden weich, ihr Brustkorb weiter. Sie stand plötzlich anders da – aufrechter, mehr bei sich.
Ein Mann tritt näher
Nun wandte sie sich dem Stellvertreter des neuen Mannes zu.
Noch vor wenigen Minuten war er quasi unsichtbar gewesen – ohne Chance, ohne Einladung. Jetzt stand er im Raum. Aufrecht. Offen.
Sie sah ihn an. Und sagte:
„Jetzt bin ich bereit. Nicht aus Mangel. Sondern aus mir heraus. Ich bin wieder ganz. Und du bist willkommen."
Der Mann nickte nur. Mehr war nicht nötig.
Das neue Bild
Am Ende der Aufstellung sah das Bild so aus:
Lena: mit ihrem Frau-Sein verbunden, in der Mitte ihres Lebens.
Jonas: frei, leicht, auf dem Weg ins eigene Erwachsenwerden.
Der Vater: nicht nah, aber anerkannt – und das genügte.
Der neue Mann: nicht mehr ausgeschlossen, sondern gesehen.
Und zwischen all dem: Raum. Stille. Würde.
Ich fragte Lena, wie es sich anfühlt.
Sie sagte leise:
„Es fühlt sich an, als hätte ich mich selbst wiedergefunden. Als dürfte ich wieder leben. Und lieben.“
Nachklang
Es war keine laute Aufstellung. Kein Tränenmeer, keine spektakulären Bewegungen. Aber es war eine der kraftvollsten, die ich je begleiten durfte.
Denn manchmal ist das größte Drama nicht das, was wir zeigen –sondern das, was wir endlich loslassen.
Und wenn eine Frau den Mut hat, sich von der Verstrickung mit ihrem Sohn zu lösen und sich selbst als Frau wiederzuerkennen – dann beginnt etwas Neues. Nicht nur für sie. Sondern für das ganze System.
Anmerkung: Wie in allen meinen Aufstellungs-Geschichten sind zum Schutz meiner Klienten die Namen frei erfunden und die Handlung zum besseren Verständnis leicht abgeändert.
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